Suchtmedizin in Forschung und Praxis, 26(5), 267-273.
Abstract
Die Wirksamkeit von Psychotherapie im Allgemeinen und speziell in der Suchtbehandlung ist seit langem ein zentrales Thema in der wissenschaftlichen Fachwelt. Häufig werden sämtliche im Rahmen einer Behandlung beobachteten positiven Veränderungen als Behandlungserfolge interpretiert, ohne zu berücksichtigen, dass neben tatsächlichen Therapieeffekten auch interne Reifungsprozesse, Veränderungen durch externe Einflüsse sowie artifizielle Scheinveränderungen auftreten können und in der Regel auch auftreten. Wo zwischen Behandlungseffekten und therapieunabhängigen Trends unterschieden wird, wird zumindest – wenn die Veränderungen positiv ausfallen – oft undifferenziert von „Spontanremission“ gesprochen, ohne die Rolle von Scheinveränderungen, wie Regression zur Mitte oder Placeboeffekte, zu bedenken. Behandlungsunabhängige Effekte und Artefakte überlagern die Behandlungserfolge und sollten klar gegen diese abgegrenzt werden. In der empirischen Wissenschaft herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die beste Methode, um diese Abgrenzung zu erreichen, die Durchführung von randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) ist, idealerweise in doppelblind durchgeführter Form.
Allerdings sind RCTs in vielen Fällen aus ethischen und praktischen Gründen nicht durchführbar, weshalb häufig auf suboptimale Forschungsdesigns zurückgegriffen werden muss. Der vorliegende Text zeigt anhand realistischer Modellrechnungen, dass Behandlungserfolge im klinischen Kontext häufig systematisch unterschätzt und Spontanremissionsraten im epidemiologischen Kontext häufig systematisch überschätzt werden. Das zu hinterfragende Vertrauen der Kliniker bzw. Epidemiologen in diese verzerrten Ergebnisse wird als „Illusion der Kliniker“ bzw. „Illusion der Epidemiologen“ bezeichnet. Beide Fehleinschätzungen können durch modellbasierte Überlegungen verdeutlicht und durch geeignete Maßnahmen in der Studienkonzeption und -auswertung zumindest teilweise kompensiert werden.