(via apa science) Diskriminierung anhand von Geschlecht hat eine psychologische Dimension. Wann und wo in Österreich entwickelte sich das Wissen um diesen Zusammenhang erstmals? Die Psychologin Nora Ruck und Kolleg:innen sind dieser Frage nachgegangen. Sie tauchten tief in die Geschichte der autonomen Frauenbewegung und Frauenberatungsstellen ein. Und entdeckten überraschend eine universitäre Blütezeit, die Mitte der 80er-Jahre begann und mit der schwarz-blauen Regierung um 2000 ein Ende fand.
 
Oft sind es jene Fragen, die man nicht beantworten kann, die neue Horizonte eröffnen. „Vor zehn Jahren war ich Gastwissenschaftlerin an der York University in Toronto“, sagt Nora Ruck. Die Psychologin forscht und lehrt an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien. „In Toronto wurde ich gefragt, wie das Wissen um die psychologische Dimension von Geschlechterdiskriminierung im deutschsprachigen Raum entstanden sei. Ich konnte nichts dazu sagen.“ Anders als in Kanada oder den USA gab es in Deutschland und Österreich kaum Forschung dazu. Als Ruck nach Wien zurückkehrt, beschließt sie, das zu ändern.

Hinter der akademischen Formulierung „psychologische Dimension von Geschlechterdiskriminierung“ verbirgt sich ein einfacher Grundgedanke: Frauen werden in der Gesellschaft noch immer anders behandelt, weil sie Frauen sind – in den meisten Fällen schlechter. Das beginnt beim Stereotyp der „angeborenen Rolle als Mutter“, geht über handfeste berufliche Nachteile wie den Gender-Pay-Gap bis hin zu Formen der strukturellen wie körperlichen Gewalt. Diese Diskriminierung, der Frauen fortlaufend ausgesetzt sind, hat natürlich eine psychologische Seite.

Hochphase der psychologischen Frauenforschung

Heute gibt es dazu ein breites Forschungsfeld. Es geht um Fragen wie: Warum diskriminieren Menschen? Warum lassen sich viele diese Diskriminierung gefallen? Und nicht zuletzt: Welche psychischen Auswirkungen hat sie auf die Menschen? „Das kann bis hin zu manifest klinischen Diagnosen gehen“, sagt Ruck. „Manche Menschen entwickeln bei langjährigen Diskriminierungserfahrungen dieselben Symptome wie bei einer posttraumatischen Belastungsstörung.“ Dieses Forschungsfeld war aber natürlich nicht immer so breit, sondern hat sich mit der Zeit entwickelt. Wie diese Entwicklung in Österreich ausgeschaut hat, haben Ruck und Kolleg:innen (Vera Luckgei, Barbara Rothmüller, Elisabeth Parzer, Emelie Rack, Florian Knasmüller, Max Beck und Nina Franke) bis Ende 2022 in dem Projekt „Das Psychologische ist politisch“ erforscht, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wurde.

Schon im Zuge einer Masterarbeit von Vera Luckgei wartete eine Überraschung auf das Forschungsteam. Ursprünglich gingen sie davon aus, dass die frauenspezifische Psychologie an den Universitäten gar nicht beziehungsweise kaum stattgefunden habe. „Wir haben aber schnell herausgefunden, dass es an der Universität Wien eine Phase gab, in der ca. 15 Jahre lang psychologische Frauenforschung zumindest gelehrt wurde. Und zwar überraschend viel, auch im internationalen Vergleich“, sagt Ruck. Ab Mitte der 80er-Jahre habe es nicht nur bis zu 10 Seminare pro Semester in dem Bereich gegeben, sondern insgesamt auch sechs Gastprofessuren. Ab der Jahrtausendwende kam das zu einem Ende. So kam zu den Fragen, die sich die Forscher:innen stellten, neben „Wo, wann und wie ist das frauenspezifische psychologische Wissen in Österreich entstanden?“ noch eine weitere hinzu: Wie kam dieses Wissen an die Universität Wien, und warum konnte sich das Fach dort nicht dauerhaft behaupten?

Autonome Frauenbewegung und erste Beratungsstellen

Eine berühmte Theorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu geht davon aus, dass die Gesellschaft in relativ autonom agierende „soziale Felder“ eingeteilt sei, deren Strukturen erheblichen Einfluss darauf hätten, wie dort Wissen produziert wird. Viel einfacher gesagt: In einer Fabrik entstehen andere linke Ideen und Gedanken als in einem Hörsaal. Die beiden sozialen Felder, in denen man in Österreich die Ursprünge des Wissens um die geschlechterspezifische Psychologie findet, sind zum einen die autonome Frauenbewegung und die ersten Frauenberatungsstellen.

Die autonome Frauenbewegung entstand Ende der 60er-Jahre in den USA und kam Anfang der 70er-Jahre in Österreich an. Das ist quasi der Startpunkt des Ganzen. „In der autonomen Frauenbewegung waren sogenannte Selbsterfahrungsgruppen sehr wichtig“, sagt Ruck. Das waren, sehr einfach gesagt, Gruppen, in denen Frauen zum Reden zusammenkamen. Bei ihrer Entstehung in den USA sollten sie ursprünglich dem Consciousness-Raising, also der Politisierung dienen, sagt Ruck. Man dachte, durch das Reden über die Diskriminierung würden die teilnehmenden Frauen aktiver im Kampf gegen diese Diskriminierung.

Vom Politischen ins Psychologische

„Die Teilnehmerinnen sind dann aber schnell draufgekommen, dass es ihnen nach diesen Gesprächen vor allem psychisch besser ging. Immer mehr Frauen sind dann bei diesen Gesprächen stehen geblieben und haben sich nicht mehr politisiert.“ Der Fokus der Gruppen verschiebt sich folglich immer mehr von der Politik ins Psychologische – sie werden zu dem, was wir heute unter dem Begriff der „Selbsterfahrungsgruppe“ kennen. Als das Konzept in Österreich ankommt, hat es schon diese eher psychologisierte Form angenommen. Für einige Jahre erfolgt die „Wissensproduktion“ um Diskriminierung und ihre Auswirkungen vor allem in der Frauenbewegung: Man tauscht sich aus, produziert Flugblätter, gründet Frauenverlage und Frauenbuchläden.

Ende der 70er-Jahre entsteht aus der autonomen Frauenbewegung heraus ein zweiter Bereich, der viel Wissen hervorbringt: die Frauenberatungsstellen. „Darauf haben wir dann letztlich in unserem Projekt auch fokussiert“, sagt Ruck. Sie führten Interviews mit den Gründerinnen von Beratungsstellen wie „Frauen beraten Frauen“ (heute Frauen* beraten Frauen*) und verschiedenen migrantischen Beratungsstellen. Diese Interviews wurden in Kontext gesetzt mit Archivmaterial, historischen Zahlen zur Förderstruktur, um ein komplettes Bild der historischen Entwicklung der frauenspezifischen Psychologie in Österreich zu bekommen.

NGOisierung der Beratungsstellen

„Die Beratungsstellen arbeiten ab Ende der 1970er informell, in der ersten Hälfte der 80er werden daraus Vereine“, sagt Ruck. Damit verändert sich vieles: Orientierten sich die Beratungsstellen anfangs noch an den Prinzipien der neuen Frauenbewegung – keine Hierarchien, keine Arbeitsteilung -, brauchten sie als Verein allein aus rechtlichen Gründen andere Strukturen. „Es kommt bei den Beratungsstellen zu einer Entwicklung, die wir NGOisierung genannt haben.“ Und weil die Strukturen in den sozialen Feldern – siehe Bourdieu oben – Einfluss darauf haben, was in ihnen passiert, entsteht in den Beratungsstellen nicht mehr dasselbe Wissen wie in der autonomen Frauenbewegung. „Man sieht am Anfang noch, dass sich alles entlang der Probleme der Klientinnen orientiert“, sagt Ruck. Sprich: Kommen viele Frauen mit einem bestimmten Problem, wird sehr viel dazu gelesen und nachgedacht. „Später zwingt die Logik der Förderungen die Beratungsstellen, sich immer mehr entlang der Erfordernisse der Geldgeber zu orientieren.“ Das heißt, sich zu professionalisieren und ein ordentliches Berichtswesen zu etablieren.

Das Wissen um die psychologische Dimension von Geschlechterdiskriminierung entstand in Österreich also in diesen beiden sozialen Feldern. Dort haben die Antworten auf die Fragen, wie die fortlaufende Diskriminierung von Frauen die Psychologie berührt, ihren Ursprung. Bleibt noch die Frage, wie dieses Wissen zu seiner Karriere an der Universität Wien kam und warum diese endete. Das sei auf die Initiative von Studierenden zurückgegangen, sagt Ruck. Es sind auch Studierende, die an die Beratungsstelle „Frauen beraten Frauen“ herantreten. 1984 halten deren Mitarbeiterinnen die ersten Lehrveranstaltungen an der Universität ab. In den folgenden 15 Jahren wird der Bereich immer weiter ausgebaut.

Das plötzliche politische Ende

Bis es zwischen 2000 und 2005 zu einem relativ abrupten Ende kommt. Nach dem Regierungswechsel zu Schwarz-Blau bricht die Kommunikation zu dem von der FPÖ besetzten Frauenministerium ab. Noch entscheidender ist aber das neue Universitätsgesetz von 2002, mit dem die sogenannte Drittelparität und damit die studentische Mitsprache abgeschafft wird. „Die Studierenden durften bei der Vergabe von Lehraufträgen nicht mehr mitbestimmen“, sagt Ruck. Das sei für diese frauenspezifische Lehre sehr relevant gewesen. „Es waren immer die Studierenden, die das erkämpft haben.“

Publikationen:

Kontakt für Rückfragen:

Ass.-Prof. Dr. Nora Ruck
Vizedekanin Forschung
Fakultät für Psychologie
Sigmund Freud PrivatUniversität
 e-mail